DAS LÄCHELN VON PARIS I

Kaum, dass ich meinen Fuß auf den Bahnsteig des Gare de l‘ Est setze, spüre ich, wie es sich bemerkbar macht – zaghaft, aber inständig. Und als ich aus dem Bahnhof trete, sitzt es schon auf meinen Lippen, macht es sich dort bequem, wie ich vermute, drei ganze Tage lang, bis es sich am Bahnsteig vorübergehend wieder verabschiedet.

Paris, Gare de l’ Est, Dezember 2025 © Anna Albrecht

Weil sich vom ersten Moment an alles so anfühlt wie immer, geht unser Weg direkt ins künstlerische Herz von Paris, in den Louvre. Knapp eine Stunde später stehen wir dann auch schon unter Peis gläserner Pyramide im „Caroussel du Louvre“, dem bahnhofsgleichen Eingangsbereich des Museums, dessen Geschäftigkeit mich stets verwirrt. Kein Wunder, fünf Millionen Besucher und Besucherinnen im Jahr wollen geschluckt, sortiert und bedient werden. So drehe auch ich mich suchend im Kreis. Wo wird sie denn nun gezeigt, die überall plakatierte Hommage an den französischen Nationalmaler Jacques-Louis David (1748-1825), der in diesem Jahr seinen 200. Todestag feiert. Weder im Sully, Richelieu oder Denon-Flügel, David gibt sich gleich hier unten die Ehre, in der Halle Napoléon. Wie passend!

 Paris, Louvre, Caroussel du Louvre, Dezember 2025 © Anna Albrecht

Um ganz ehrlich zu sein, ich bin keine große Freundin dieses französischen Malers, dessen riesige Historienbilder in jeder Kunstgeschichte als typische Vertreter der klassizistischen Malerei auftauchen und in jedem Geschichtsbuch die Ereignisse rund um die Französische Revolution dokumentieren, allen voran der „Schwur der Horatier“ (1784), gefolgt von „Marats Tod“ (1793) oder der „Krönung Napoleons“ (1806/1807). Zu Davids perfekter Hochglanzmalerei im römischen Gewand hat mir bislang der Zugang gefehlt. Genau deshalb freue ich mich jetzt aber auf die kleine David-Lehrstunde, die der Louvre sicher rundum mund- und fachgerecht vorbereitet hat, schließlich besitzt das Museum die meisten seiner Werke. Schon leuchtet mir weiß auf schwarzem Banner der Name DAVID entgegen und nun begebe ich mich hinein in die Welt Davids, die mit 100 Werken aufwartet: dazu zählen seine klassischen Historienbilder, die weniger bekannten Porträts und einige Zeichnungen.

Gleich zu Beginn erlebe ich die erste Überraschung: ich stehe vor einem frühen Gemälde Davids, dem „Raub der Sabinerinnen“, das den Einfluss seines ersten Mentors zeigt und das ist kein geringerer als François Boucher! Was? Ungläubig starre ich auf das Schild und dann auf das Bild. Es stimmt! Nicht im Entferntesten wäre ich auf so eine Idee gekommen. David und Boucher? Größere Gegensätze in der Malerei kann man sich kaum vorstellen! Boucher, Liebling und Porträtist der berühmten Madame Pompadour, Vertreter jener sinnlichen Malerei, wie sie das Ancien Regime so liebte: schaukelnde Frauen, liebkosende Paare von flatternden Putti in künstliche Landschaften gebannt – Rokoko pur! Dagegen David, ernste Helden, große Dramen und kühle Pose, Klassizismus par excellence. Aber siehe da, die beiden haben tatsächlich deutlich mehr gemeinsam als eine entfernte verwandtschaftliche Beziehung – Davids Karriere begann im Atelier von Boucher. Eins zu Null für die Ausstellungsmacher!

Bevor ich diese Erkenntnis verdaut habe, erwartet mich schon “der Schwur der Horatier“. Es ist eines der früheren Historienbilder Davids und war bei seiner Premiere eine Sensation: dorische Säulen und stattliche Männer anstelle dekorativer Rocaillen! Schnörkellos spitzt der Künstler die dramatischen Ereignisse aus der römischen Geschichte (nach Titus Livius) auf den Schwur des Horatius und seiner Söhne zu, während man im Hintergrund das leise Wimmern ihrer trauernden Frauen und Schwestern hört. Die Geschichte ist auf den Punkt gebracht, die Tragik klingt durch – alles vorhanden und perfekt gemalt. Aber etwas fehlt mir an diesem Bild, ich weiß nur noch nicht genau, was es ist.

Gedankenverloren ziehe ich weiter, betrachte Bild um Bild, und merke dabei, wie mich die Müdigkeit einer langen Reise langsam einholt, da trifft mich ein prüfender Blick. In ihm kann ich alles erkennen zwischen kühler Zurückhaltung und Neugier.

Er gehört zu dem Porträt eine jungen Frau im weißen Kleid. Sie ruht auf einer Liege mitten in einem Raum und tut nichts weiter, als über ihre Schulter hinweg uns, das Publikum, zu mustern. Es ist das Porträt von Madame Récamier, um genauer zu sein, von Juliette Récamier, jener bildschönen Zeitgenossin Davids, die in Paris einen „Salon“ führte. Dort traf man sich, um über Gott und die Welt, Politik und Gesellschaft zu sprechen. Scharfe Kritik, Schlagfertigkeit und kluger Witz standen bei der geistreichen „Salonière“ ganz oben auf der Tagesordnung, jedenfalls so lange, bis Napoleon den Salon mit dem Verdacht auf staatspolitische Machenschaften verbot. Acht Jahre später schickte der Kaiser die Schöne in die Verbannung. Was von Madame Récamier geblieben ist, das, ist ihr Sitzmöbel, die sogenannte Récamière. Auf ihr liegend pflegte die Salonière ihre gelehrten Gäste zu empfangen. Und genau in dieser Pose malte sie David. Ich trete näher an das Gemälde heran, dessen Querformat mir schon ungewöhnlich genug vorkommt, aber das ist bei weitem nicht alles, was dieses Bild merkwürdig macht. So einfach es auf den ersten Blick scheint, so verwirrender wird es, wenn man länger hinsieht: die Frau und ihr Blick, der Raum und seine Möbel. Wie geht das alles zusammen? Juliette Récamier empfängt ihre Gäste auf der Liege liegend. So betrachtet, empfängt sie eigentlich mich, uns, ihr Publikum, das im Moment recht zahlreich erscheint. Dazu passt ihr herausfordernder Blick, als spräche sie: „Wer bist du?“ und “Was willst du hier?” Für mein Wohlbefinden wäre es jetzt gut zu wissen, wo diese unerwartete Begegnung stattfindet. Aber der gemalte Raum gibt nichts her: Boden, Wände, Decke - alles gehen in einem diffusen Helldunkel auf. Also kann der Empfang überall stattfinden: im Kabinett, im Salon, im Boudoir. Und die Möbel? Die Liege, die Lampe, der Schemel, sie sind römischer Herkunft. Wie Requisiten werden sie auf dem Bild zur Schau gestellt und damit liegt der Gedanke nahe, das Porträt als Szene auf einer Theaterbühne zu verstehen. Ein nur durch wenige Möbel angedeuteter Raum lässt dem Publikum alle Freiheiten und lenkt gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die Hauptdarstellerin im Stück, auf Juliette Récamier: Sie trägt ein weißes Empirekleid, vermutlich aus Musselin. Denn die indische Baumwolle war damals sehr in Mode. Leicht und weiß umflossen die Gewänder den weiblichen Körper, hier fällt der Stoff weich auf den Boden. In Schnitt und Stoff unterschieden sich die Gewänder des Empire stark von den einschnürenden und schweren Barockkleidern, auch die Mode folgte der Revolution. Ansonsten verrät Juliette kaum etwas über ihre Person, ihre Meinung, ihren Stand: sie trägt keinen Schmuck, hält kein Buch, übt keine Tätigkeit aus. Stattdessen setzt sie sich mit bloßen Armen und nackten Füßen (!) unseren Blicken aus und behält dennoch die Oberhand – durch die Mischung von Eleganz und Lässigkeit. Was hat sich David wohl dabei gedacht? Wen schickte er auf diese Bühne? Die geistreiche Salonière oder die verführerische Juliette? Tatsächlich hat David dieses Bildnis nie vollendet, Juliette hat es nie bekommen. Gab es Unstimmigkeiten zwischen dem Maler und seiner Auftraggeberin? War sie mit ihrem Bildnis vielleicht nicht einverstanden? Oder war der Maler mit seinem Werk nicht zufrieden? Als Betrachterin bin ich hin- und hergerissen, einerseits fordert mich das Porträt zum Dialog heraus, andererseits hält mich die theatralische Inszenierung auf Abstand. Die kluge Madame Récamier gibt nichts von sich preis, die lächelnde Juliette will alles von mir wissen. Es sind genau diese Widersprüche, von dem dieses wunderbare Porträt lebt. Denn im Gegensatz zum Gemälde der schwörenden Horatier, das von Anfang bis Ende perfekt inszeniert und die Geschichte bis zu Ende erzählt, behält dieses Porträt eine Offenheit, die im Kopf des Betrachters die ungeschriebenen Geschichten in den Gang setzt. Vielleicht wird sich Juliette im nächsten Moment achselzuckend von ihrem Sofa erheben und die Bühne verlassen. Vielleicht wird sie sich über ihr Publikum lustig machen oder einem von uns lächelnd die Hand reichen?

In diesem Moment verstehe ich, wie modern die Porträtkunst Davids ist. Hier wie an allen weiteren Porträts lerne ich eine ganz andere Seite des französischen Nationalmalers kennen. Egal, um welches Bildnis es sich handelt, sie alle oszillieren zwischen Eleganz und Distanz, zwischen intimer Momentaufnahme und öffentlicher Inszenierung, zwischen Klassizismus und Naturalismus.

Jacques-Louis David, Porträt d’Anne-Marie-Louise de Sorcy-Thélusson, 1790, Ausstellung im Louvre Dezember 2025 © Albrecht

Jacques-Louis David, Porträt der Marquise d'Orvilliers, geborene Jeanne-Robertine Rilliet, Ausstellung im Louvre Dezember 2025 © Albrecht

Da verkünden die Lautsprecher plötzlich, dass das Museum in einer Viertelstunde schließt. Schon? Nun merke ich erst, wie müde ich eigentlich bin und ströme mit allen anderen zum Ausgang Rivoli. Auf dem Weg zurück ins Hotel geht es vorbei an all den inzwischen so vertrauten Orten, durch den Jardin du Palais-Royal, die Galerie Vivienne und

Paris, Galerie Vivienne, Dezember 2025 © Albrecht

unserer Lieblingsbar “Bar du Moulin” am Place des Petits Pères.

Paris, Bar du Moulin, Dezember 2025 © Albrecht

Schließlich ist unser Hotel nur noch wenige Schritte entfernt. Mit dem Kopf voller Bilder schließen wir die Tür auf und empfinden es als wohltuend, in das Dunkel des kleines Zimmers einzutreten. Und selbst als wir feststellen, dass der Raum nur ein Fenster zum düsteren Flur besitzt (ein Fenster, das sich im übrigen noch nicht einmal öffnen lässt) nehmen wir es fast dankbar in Kauf – wie könnte man die frischen Bilder schon wieder mit neuen überschreiben? Und im nächsten Moment falle ich mit dem sanften Rumpeln der Metro aus dem Untergrund und diesem herrlichen Gefühl von „Morgen-ist-ja-erst-der-zweite-Tag“ in den Schlaf.

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WENN DER SEE WINTERSCHLAF HÄLT, ERWACHT FOGAZZAROS “PICCOLO MONDO ANTICO” (“ALTE KLEINE WELT“)