WIE MAN AUF LEISEN SOHLEN EIN HAUS ZUM SPRECHEN BRINGT

Eggolsheim, Elektroporzellan Fabrik Lindner, Anfang der 50 Jahre, aus: Festschrift Kurt Lindner 1952 © Max Göllner

Ein emsiges Trappeln und verhaltenes Tuscheln mischen sich in das Prasseln des Regens, den der Wind gegen die großen Scheiben des Treppenhauses treibt: 8.00 Uhr morgens in der Fachoberschule in Eggolsheim – ein neuer Schultag beginnt. Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte eilen (die einen träge, die anderen geschäftig) in den zweiten Stock der ehemaligen Elektroporzellanfabrik Lindner, wo sie nach und nach in ihren Klassenzimmern verschwinden.

Eggolsheim, Fachoberschule, Oktober 2025 © Anna Albrecht

Als ich „unser“ Klassenzimmer betrete, sitzen die meisten Schüler schon. Einige schauen auf und lächeln kurz, andere rücken verlegen ihr Namensschild zurecht, aber dann flimmert das Smartboard in meinem Rücken auf und Heike nickt mir zu, die Stunde beginnt. Es ist eine besondere Stunde – der Auftakt zu unserem Schulprojekt, das wir mit einem Zitat von Honoré de Balzac beginnen: „Wer etwas über die der Welt erzählen möchte, der soll die Geschichte eines Hauses erzählen“.

Eggolsheim, Fachoberschule, Auftaktveranstaltung Oktober 2025, aus unser Powerpoint © Anna Albrecht

Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern der 11. und 12. Jahrgangsstufe gehen wir auf Spurensuche – für heute erstmal durch das Schulgebäude. Denn Wände, Räume und Ausstattung sollten uns doch einiges über das Tun und Treiben in der ehemaligen Fabrik für Elektroporzellan und Sicherungen, für Porzellanfassungen und Leuchten erzählen können, oder? Wo kann man sie am meisten erspüren, die Gegenwart der Visionen, wie sie die Unternehmerfamilie Lindner zweifellos hatte, schließlich ging ihre Ware bis nach Skandinavien und weit darüber hinaus? In welchen Ecken des heute so nüchtern wirkenden Gebäudes trifft man noch auf den Fleiß und Schweiß der ehemaligen Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter? Wo kann man noch ihre Stimmen hören, ihr Gelächter, das Surren der Maschinen. Und wo spürt man vielleicht sogar noch die Hitze des alten Brennofens? Oder müssen wir alle diese Dinge erst zum Sprechen bringen? Noch weiß ich selbst nicht soviel über die Vergangenheit dieser Fabrik mit bestem Ruf in der jungen bundesdeutschen Republik!

Eggolsheim, Elektroporzellanfabrik, das Putzen der getrockneten Rohling in der Fabrik, Anfang der 1950er Jahre, aus der Festschrift Kurt Lindner 1952 © Max Göllner

Als ich den Schülerinnen und Schülern erkläre, dass man ein Gebäude wie einen schweigenden Freund zum Reden bewegen kann, sehe ich ihnen die Ungläubigkeit an. Aber dann üben wir das Hineinhorchen in einen Raum, überlegen, wie Holz, Stein und Beton auf uns wirken – welchen Einfluss Farben, Proportionen und Licht auf unsere Stimmung haben und was es eigentlich mit dem berühmten genius loci auf sich hat, dem Ort an sich. Wir stellen fest, dass ein Keller anders riecht als eine moderne Küche, eine Schule von heute anders funktioniert als eine Schule aus dem 19. Jahrhundert und dass sich Räume warm und kalt anfühlen können, unheimlich, heiter und noch dazu für jeden anders. Wir reden auch über Denkmäler, warum und wie man sie pflegt, was die Vergangenheit mit der Gegenwart und auch mit der Zukunft zu tun hat und warum sich Menschen für alte Gebäude engagieren, so wie bei der Stiftung Denkmalschutz.

Nach der ersten Stunde heißt es dann: auf zum „Silent Walk“! Spurensuche auf leisen Sohlen, um das Gebäude und seine Geschichten auf sich wirken zu lassen. Dabei dürfen die Schülerinnen und Schüler zu zweit oder zu dritt losziehen, sollen aber zunächst jede und jeder für sich selbst die Umgebung neu entdecken. Anfangs halten sie sich alle noch etwas hilflos an den dicken braunen Umschlägen fest, die Heike für sie vorbereitet hat: darin stecken Kopien der alten Grundrisse des Fabrikgebäudes, Schwarzweiß-Fotos aus den 50er Jahren der Fabrik und blanke Blätter für Notizen. Aber bald schon sieht man die Schülerinnen und Schüler in den Ecken und Fluren der Geschosse verschwinden, sich schließlich wieder findend, flüsternd und später laut diskutierend, lachend sogar. Wieder geht’s treppauf und treppab, aber dieses Mal nicht müde, sondern neugierig, mit dem Grundriss in der Hand und Entdeckerfreude in den Herzen.

Eggolsheim, Werkstatt, Auftaktveranstaltung, Heike Preier beim Vorbereiten der Architektenpapiere, Oktober 2025 © Anna Albrecht

Als wir die Klassen nach einer guten Weile zu uns ins Erdgeschoss rufen, dort, wo sich die Werkstätten der Schule befinden, liegt Nervosität in der Luft: „Was habt ihr entdeckt?“ „Hilfe, wir müssen das jetzt doch nicht etwa alles vortragen?“ „Wir sind doch noch gar nicht fertig“... Schulalltag! Ich muss schmunzeln und schaue fragend zu Heike hinüber, die ihre Schülerinnen und Schüler bestens kennt und zu beruhigen weiß: „Es gibt keine Noten! Jetzt zählt nur, was ihr entdeckt habt. Und dabei gibt es auch kein richtig, falsch oder ungenügend. Wir forschen!“

Eggolsheim, Werkstatt, Auftaktveranstaltung, Architektenpapiere, Oktober 2025 © Anna Albrecht

Längst hat Heike große Streifen des Transparentpapiers auf dem Werktisch ausgebreitet und nun soll jede Gruppe ihre Beobachtungen und Fragen eintragen – Geschoss für Geschoss! Und schon geht’s wieder los: Diskutieren, Collagieren, Kleben und Beschriften – ich merke sofort, dass hier kreative Menschen am Werk sind, fast so wie früher, geht es mir durch den Sinn.

Eggolsheim, Werkstatt, Auftaktveranstaltung, Architektenpapiere, Oktober 2025 © Anna Albrecht

Anschließend lassen wir an der Wandtafel Stockwerk für Stockwerk das Gebäude in die Höhe wachsen und allen wird klar, dass es richtig viele ungelöste Fragen gibt, soviel scheint aus der alten Zeit verschwunden zu sein, aber einige heiße Spuren gibt es auch: Lag im Dachgeschoss wirklich die Küche, so wie es auf dem Foto aussieht? Und gab es einen großen Brennofen in der Werkstatt, dort, wo die Fenster so hoch liegen? Und was hat es eigentlich mit der alten Waage im Erdgeschoss auf sich? Wozu diente der Aufzugschacht im hinteren Gebäudeteil, dessen Schalter noch erhalten ist? Fragen über Fragen, auf die wir wohl erst im Laufe des Schuljahres Antworten finden werden. Es war ein schöner Einstieg in ein Projekt, das uns ganz schön in Atem hält. Denn als nächstes steht schon ein Ausflug nach Bamberg an, ins Kompetenzzentrum für Denkmalpflege.

Eggolsheim, Werkstatt, Auftaktveranstaltung, die Schülerinnen und Schülern erläutern ihre Beobachtungen, Oktober 2025 © Anna Albrecht

Eggolsheim, Werkstatt, Gebäudeaufriss der Fabrik nach den Beobachtungen der Schülerinnen und Schüler, Oktober 2025 © Anna Albrecht

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SPURENSUCHE LINDNDER! MODERNER SCHULALLTAG IM ALTEN INDUSTRIEDENKMAL UND DIE KRAFT DER “SCHÖNEN DINGE!”